Prof. Dr. Rödiger Voss Coaching Kreuzlingen
  

2024-12-19

Cannabis als Medizin und Verkehrssicherheit: Differenzierte Betrachtung der Patientengruppen aus Sicht des Suchtcoachings

1. Hintergrund

Seit dem 1. August 2022 ist die Verschreibung von Cannabis für die medizinische Anwendung in der Schweiz gesetzlich neu geregelt. Ärztinnen und Ärzte können in eigener Verantwortung mittels Betäubungsmittelrezept Cannabisarzneimittel verschreiben, wobei sie die ärztliche Sorgfaltspflicht beachten müssen. Die Wahrung dieser Sorgfaltspflicht wird von den kantonalen Vollzugsbehörden überwacht. Bei jeder Verschreibung eines Cannabisarzneimittels ist zudem eine Online-Meldung zur Therapie an das Bundesamt für Gesundheit (BAG) obligatorisch.

Im Kontext der medizinischen Behandlung werden häufig die Begriffe „Medizinalcannabis“, „Cannabinoide in der Medizin“ und „Cannabisarzneimittel“ verwendet. Diese Begriffe umfassen den therapeutischen Einsatz der Hanfpflanze und ihrer Wirkstoffe zur Behandlung verschiedener Krankheiten.

2. Personengruppen, die medizinisches Cannabis nutzen

Medizinisches Cannabis gewinnt in der modernen Medizin zunehmend an Bedeutung und wird von verschiedenen Patientengruppen genutzt. Die motivationsbedingten Unterschiede und die Wirkungserwartungen haben dabei wesentliche Auswirkungen auf ein Suchtcoaching. Besonders relevant sind in diesem Zusammenhang Patienten mit Sucht- oder Missbrauchsvorgeschichte im Vergleich zu solchen, die Cannabis erstmals aus rein medizinischen Gründen verwenden. Diese Unterschiede können je nach Konsummotivation und therapeutischer Erwartung erhebliche Folgen für ein erfolgreiches Suchtcoaching haben. Es sind mindestens drei spezifische Fallgruppen zu unterscheiden.

3. Fallgruppe 1: Patienten mit ärztlicher Verschreibung

Die erste Gruppe besteht aus Patienten, bei denen der Arzt die Indikation stellt und Cannabis als Medikament verschreibt. Diese Gruppe umfasst Patienten, die zuvor keine Erfahrungen mit Cannabis hatten und nun eine ärztlich überwachte und regulierte Therapie beginnen. 

Auch für die erste Fallgruppe kann Suchtcoaching von entscheidender Bedeutung sein. Es unterstützt die Prävention von Missbrauch, fördert die Behandlungscompliance und bietet psychosoziale Unterstützung. Die Integration von Suchtcoaching in die Therapie kann somit dazu beitragen, das Risiko von Abhängigkeit zu minimieren und den therapeutischen Erfolg zu maximieren. Hier sind einige wichtige Gründe, warum Suchtcoaching auch für diese Patientengruppe sinnvoll ist:

Prävention von Missbrauch und Abhängigkeit

Obwohl diese Patienten keine Vorgeschichte des Cannabiskonsums haben, besteht dennoch das Risiko, dass sie anfangen könnten, das Medikament unsachgemäss zu nutzen oder höhere Dosen als empfohlen zu konsumieren. Suchtcoaching kann helfen, Anzeichen von Missbrauch frühzeitig zu erkennen und darauf zu reagieren.

Suchtcoaches können Patienten umfassend über die Risiken und Nebenwirkungen von Medizinalcannabis aufklären. Ein besseres Verständnis für die potenziellen Gefahren kann dazu beitragen, dass Patienten das Medikament verantwortungsbewusst nutzen.

Unterstützung bei der Therapieeinstellung

Die Einstellungsphase, in der die optimale Dosierung des Medizinalcannabis gefunden wird, kann schwierig sein. Suchtcoaches können den Patienten in dieser kritischen Phase begleiten und unterstützen, Fragen beantworten und Hilfestellung leisten.

Ein Suchtcoach kann sicherstellen, dass Patienten die Therapie gemäss den ärztlichen Vorgaben durchführen. Das Coaching kann helfen, die Therapieanweisungen zu befolgen und die Einnahme des Medikaments zu regulieren.

Förderung der psychischen Stabilität

Suchtcoaches bieten nicht nur Unterstützung bei der Medikamenteneinnahme, sondern auch bei der Bewältigung von psychosozialen Belastungen, die im Zusammenhang mit der Erkrankung stehen könnten. Dies kann die allgemeine psychische Stabilität fördern und den Therapieerfolg unterstützen.

Patienten unter Stress oder mit psychischen Belastungen könnten versucht sein, das Medikament zur Selbstmedikation von nicht therapeutischen Symptomen zu verwenden. Suchtcoaches können hilfreiche Bewältigungsstrategien bieten, um diesen Versuchungen entgegenzuwirken.

Vermeidung von sozialer Isolation

Chronisch kranke Patienten können sich oft isoliert fühlen. Suchtcoaching kann dazu beitragen, soziale Unterstützung und Integration zu fördern, was sich positiv auf das Gefühl der sozialen Verbundenheit und das Wohlbefinden auswirken kann.

Suchtcoaches können Patienten dabei helfen, sich mit Selbsthilfegruppen oder anderen Unterstützungsnetzwerken zu verbinden. Diese Netzwerke bieten zusätzliche Unterstützung und teilen wertvolle Erfahrungen zur Bewältigung der Therapie.

4. Fallgruppe 2: Patienten mit vorausgegangener Cannabis-Eigentherapie
 
Die zweite Gruppe umfasst Patienten, die in ihrer Krankheitsvorgeschichte im Rahmen einer Selbstmedikation bereits Erfahrungen mit einer Cannabis-Eigentherapie gemacht haben und nun auf eine ärztliche Verschreibung umsteigen. Hier sind einige wesentliche Gründe, warum Suchtcoaching auch für die Patientengruppe 2 unerlässlich ist:

Unterstützung beim Übergang von illegalem zu legalem Konsum

Der Wechsel von illegalem Cannabis zu legalem, ärztlich verschriebenem Medizinalcannabis kann für Patienten kompliziert sein. Suchtcoaches können diesen Übergang begleiten und sicherstellen, dass er so nahtlos und sicher wie möglich verläuft.

Der legale Bezug von Cannabis mindert das Risiko rechtlicher Probleme und stellt sicher, dass die Qualität und Dosierung des Produkts kontrolliert sind. Suchtcoaching kann dazu beitragen, Patienten in der Nutzung von legalem Cannabis zu unterstützen und mögliche Rückfälle in illegalen Konsum zu verhindern.

Bewältigung von bestehendem Suchtverhalten

Patienten mit einer Eigenmedikationsgeschichte könnten bereits Suchtverhalten entwickelt haben. Suchtcoaches können dabei helfen, bestehende Abhängigkeitsmuster zu erkennen und zu durchbrechen, indem sie individuelle Strategien zur Suchtbewältigung und Therapieintegration anbieten.

Eine engmaschige Betreuung durch Suchtcoaches ermöglicht es, den Fortschritt der Patienten zu verfolgen und frühzeitig einzugreifen, wenn Anzeichen von Missbrauch oder Rückfalldenken auftreten.

Förderung der Therapieeinhaltung und Compliance

Patienten, die bisher ohne ärztliche Anleitung Cannabis konsumiert haben, müssen sich an neue Therapiepläne und Dosierungsvorgaben halten. Suchtcoaches können sicherstellen, dass diese Patienten die Anweisungen des Arztes genau befolgen, was entscheidend für den Therapieerfolg ist.

Suchtcoaches bieten umfassende Informationen zu den Unterschieden zwischen illegal und legal erworbenem Cannabis, zu den erwarteten therapeutischen Effekten und zu potenziellen Nebenwirkungen. Diese Aufklärung hilft, Missverständnissen und Fehlanwendungen vorzubeugen.

Unterstützung bei psychologischen und sozialen Herausforderungen

Der Umstieg von einer selbstverwalteten Therapie auf eine medizinisch überwachte Behandlung kann emotional und sozial belastend sein. Suchtcoaches bieten Unterstützung bei der Bewältigung dieser Herausforderungen und helfen, den mentalen Gesundheitszustand der Patienten zu stabilisieren.

Patienten, die zuvor illegales Cannabis konsumiert haben, könnten mit Stigmatisierung und Schamgefühlen kämpfen. Suchtcoaches schaffen ein unterstützendes Umfeld, in dem Patienten offen über ihre Erfahrungen sprechen können, ohne stigmatisiert zu werden.

Integration in ein umfassendes Behandlungskonzept

Suchtcoaches arbeiten eng mit Ärzten und anderen medizinischen Fachkräften zusammen, um eine ganzheitliche Betreuung zu gewährleisten. Dies umfasst nicht nur die physische Gesundheit, sondern auch die psychische und soziale Dimension der Patientenbetreuung.

Eine kontinuierliche Betreuung durch Suchtcoaches stellt sicher, dass Patienten langfristig unterstützt werden. Diese langfristige Perspektive ist entscheidend, um nachhaltige Veränderungen im Konsummuster zu erreichen und den langfristigen Therapieerfolg zu sichern.

Fazit

Für Patienten der Fallgruppe 2, die von einer Eigenmedikation mit Cannabis zu einer ärztlich verordneten Therapie wechseln, stellt Suchtcoaching eine wichtige Unterstützung dar. Es hilft, den Übergang zu einem legalen und kontrollierten Gebrauch zu erleichtern, bestehende Abhängigkeitsmuster zu durchbrechen und die Therapieeinhaltung zu fördern. Durch umfassende Unterstützung in psychologischen und sozialen Belangen sowie eine enge Zusammenarbeit mit medizinischen Fachkräften trägt Suchtcoaching wesentlich dazu bei, den langfristigen Therapieerfolg zu maximieren und das Risiko von Rückfällen zu minimieren.

5. Fallgruppe 3: Konsumenten mit Missbrauchsvorgeschichte

Die dritte Gruppe setzt sich aus Konsumenten zusammen, die eine Missbrauchsvorgeschichte und/oder drogenbezogene Delinquenz aufweisen und einen medizinischen Bedarf vortäuschen. Diese Personen streben eine Cannabisverschreibung nur an, um ihren missbräuchlichen Konsum zu legalisieren. Die zentrale Motivation liegt in dieser Absicht.

Differenzierung von legitimen Patienten

Das Differenzieren der Konsumenten aus Fallgruppe 3 von legitimen Patienten mit therapeutischem Bedarf (Fallgruppe 2) ist eine Herausforderung. Eine gründliche Anamnese, ist notwendig, um den tatsächlichen Bedarf zu ermitteln. Beide Fallgruppen haben Erfahrungen mit illegalem Cannabisbezug und Verstossen gegen das Betäubungsmittelgesetz (sogenannte Umschwenker-Problematik). Somit gelten viele der obigen Ausführungen für Fallgruppe 2 auch für Fallgruppe 3. Jede Gruppe hat jedoch spezifische Bedürfnisse und Herausforderungen

Während Patienten der Fallgruppe 2 vor allem Unterstützung beim Übergang von einer Eigenmedikation zu einer ärztlich überwachten Therapie benötigen, erfordert Fallgruppe 3 eine intensive Betreuung zur Bewältigung von Abhängigkeitsproblemen und zur Vermeidung von Missbrauch. Ein individuelles und massgeschneidertes Coaching ist in beiden Fällen entscheidend, um den nachhaltigen Therapieerfolg zu gewährleisten. Unterschiedliche Aspekte wären:

Identifikation der wahren Motivationen und Risikofaktoren

Startpunkt ist eine gründliche Bedürfnisanalyse. Der Suchtcoach analysiert die wahren Motivationen der Patienten zur Nutzung von Medizinalcannabis, um sicherzustellen, dass der Antrag auf Verschreibung nicht missbrauchsorientiert ist.

Eine umfassende Risikobewertung wird durchgeführt, um das Potenzial für Missbrauch und erneuten Konsum illegaler Substanzen zu erkennen. Der Suchtcoach erstellt daraufhin einen auf den individuellen Bedarf zugeschnittenen Therapieplan.

Intensive Betreuung und strenge Überwachung

Patienten dieser Gruppe benötigen intensivere und häufigere Kontrollen, um sicherzustellen, dass der Cannabisgebrauch nicht ausserhalb der medizinischen Vorgaben erfolgt.

Der Suchtcoach integriert präventive Massnahmen und Interventionen, die frühzeitig eingreifen können, falls Anzeichen von Rückfall oder Missbrauch auftreten.

Langfristige Therapie und Unterstützung bei Abhängigkeit

Suchtcoaches konzentrieren sich auf langfristige Therapieansätze, die nicht nur den aktuellen Konsum regulieren, sondern den Patienten auch helfen, ihre Vergangenheit zu verarbeiten und nachhaltige Veränderungen herbeizuführen.

Intensive psychologische Unterstützung und Rückfallpräventionsprogramme sind zentral, um die Patienten zu stabilisieren und die Chancen auf dauerhafte Abstinenz oder kontrollierten Konsum zu erhöhen.

6. Fazit aus Sicht des Suchtcoachings

Die individuelle Risikobewertung umfasst allgemein bei allen drei Fallgruppen die Analyse des bisherigen Konsumverhaltens, die Effektivität vergangener und aktueller Therapieansätze sowie die allgemeine psychische Stabilität des Patienten. Dies bildet die Grundlage für die Entscheidungsfindung hinsichtlich der therapeutischen Betreuung und Unterstützung durch Suchtcoaching.

Die drei Fallgruppen verdeutlichen die komplexen Anforderungen an die Verschreibung und Überwachung von medizinischem Cannabis sowie die zentralen Aspekte des Suchtcoachings. Es ist unerlässlich, dass Ärzte und Suchtcoaches die spezifischen Bedürfnisse und Hintergründe jedes Patienten berücksichtigen, um eine sichere und effektive Therapie zu gewährleisten.

In der Schweiz sollten regulatorische und therapeutische Massnahmen weiterhin entwickelt und angepasst werden, um die verschiedenen Patientenbedürfnisse optimal abzudecken und die Patientensicherheit zu maximieren. Eine enge Zusammenarbeit zwischen medizinischen Fachkräften und Suchtcoaches ist dabei von grösster Bedeutung, um eine ganzheitliche Betreuung sicherzustellen und den therapeutischen Erfolg zu fördern.

Referenzen

Website/wissenschaftliche Artikel

https://www.bag.admin.ch/bag/de/home/medizin-und-forschung/heilmittel/med-anwend-cannabis.html#-976416597

https://www.dgvp-verkehrspsychologie.de/wp-content/uploads/2018/08/Handlungsempfehlung-_Cannabismedikation_v2_Stand-15.08.2018.pdf

https://medizinisches-cannabis-frankfurt.de/wissenschaftliche-studien/forschungsstand/

https://www.aerzteblatt.de/archiv/239101/Verschreibung-von-Cannabisarzneimitteln-an-Selbstzahlende

https://www.aerzteblatt.de/archiv/127598/Das-therapeutische-Potenzial-von-Cannabis-und-Cannabinoiden

https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/26103030/

https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/26103030/

https://sgcm-sscm.ch/

https://praxis-suchtmedizin.ch/index.php/de/cannabis/strassenverkehr-cannabis

YouTube

https://www.youtube.com/watch?v=57u0n1jbV1Q

Ein Bericht in der deutschen Sendung Galileo, die neben den Nebenwirkungen auch das Profitstreben mit Medizinalcannabis diskutiert.

Admin - 00:23:37 @ Coaching / Beratung