2025-10-02
Ist die Demokratie in den USA am Abgrund? Eine kritische Reflexion zur aktuellen Lage unter Trump
1 Einordnung der Debatte
Als Autor zum Thema „Autokratien politökonomisch erklärt“ begegne ich regelmässig pessimistischen Einschätzungen zur Lage der Demokratie in den USA. Am 1.10. berichtete n-tv über eine Umfrage, nach der 92 % auf die Frage „Sind die USA auf dem Weg in eine Diktatur?“ mit „Ja“ und 8 % mit „Nein“ antworteten. Bewegt sich die weltweit grösste Demokratie unter einer zweiten Amtszeit Donald Trumps also tatsächlich in Richtung Diktatur? Die These ist provokant. Ein nüchterner Blick soll klären: Was sagen die Fakten und was nicht?
2 Signale der Exekutivdominanz
Seit Trumps Amtseinführung im Januar 2025 hat seine Administration Massnahmen ergriffen, die als Schwächung der Gewaltenteilung kritisiert werden. Dazu zählen Executive Orders, die unabhängige Behörden wie SEC oder FTC stärker unter direkte Präsidentschaftskontrolle stellen. Kritiker sprechen von einem „power grab“ (McGreal 2025, The Guardian). Zusätzliche Sorge bereitet Trumps Rhetorik: Er spricht von einem „Krieg von innen“ gegen „Feinde“ in US-Städten wie Portland oder New York und droht mit Militäreinsätzen gegen Zivilisten.
3 Project 2025 und institutionelle Nutzung
Hinzu kommt die Umsetzung von Elementen aus „Project 2025“, einem Plan der Heritage Foundation, der von Kritikern als Blaupause für autoritäre Reformen gelesen wird. Ziel seien u. a. die Besetzung von Schlüsselpositionen mit loyalen Gefolgsleuten, das Einfrieren ausländischer Hilfen sowie der Einsatz der Justiz gegen politische Gegner (Detrow 2025, NPR). Politikwissenschaftliche Bewertungen verorten die US-Demokratie inzwischen bei rund 55 von 100 Punkten, ein historischer Tiefstand (Langfitt 2025, NPR).
4 Strukturelle Resilienz reifer Demokratien
Gleichzeitig zählen die USA zu den resilientesten Demokratien weltweit. Przeworski et al. (2000) zeigen, dass reiche, lang etablierte Demokratien, wie die USA mit über 200 Jahren demokratischer Tradition und hohem Pro-Kopf-Einkommen nur eine sehr geringe Wahrscheinlichkeit vollständigen Scheiterns aufweisen, sofern Kerninstitutionen intakt bleiben. Schon Seymour Martin Lipset (1959) formulierte: „Je wohlhabender eine Nation ist, desto grösser sind ihre Chancen, die Demokratie zu bewahren.“
5 Checks and Balances in der Praxis
Trumps Machtbasis ist begrenzt: Der Kongress ist gespalten. Eine knappe republikanische Mehrheit folgt ihm nicht durchgängig. Gerichte blockieren einzelne Executive Orders (etwa zu Einwanderung oder Medienregulierung). Öffentlicher Protest und zivilgesellschaftliche Gegenkräfte bleiben präsent. Zudem hat sich Trump öffentlich von Teilen von „Project 2025“ distanziert. Manche Vorschläge, etwa Deregulierung, sind zudem klassische konservative Positionen, die bereits unter dem Ex-Präsidenten Ronald Reagan verfolgt wurden, ohne in eine Diktatur zu münden.
6 Selbstbild der Reformagenda
Aus konservativer Sicht geht es um Reform, nicht Revolution. Der „deep state“ solle abgebaut, Loyalität in Behörden gestärkt und Exekutivmacht effizienter genutzt werden. Anhänger werten dies als Korrektur vormaliger politischer Übergriffigkeit, nicht als Etablierung eines „Diktators“, sondern als konsequente „America First“-Politik.
7 Grenzen der Koalitionsbildung
Trumps Fähigkeit, seine Wählerbasis nachhaltig zu verbreitern, bleibt begrenzt (Schlefer 2025, Politico). Erfolgreiche Autokraten bauen jedoch stabile, breite Elitenkoalitionen auf (Voss 2023). Trump hingegen entfremdet sie sich immer mehr von ihnen, von Elon Musk bis zu Ileana Garcia, Mitbegründerin von Latinas for Trump (Ortiz Blanes 2025, Miami Herald).
8 Fazit
Bei aller Zuspitzung in Ton und Taktik überwiegen klar die Signale der Stabilität: robuste Institutionen, funktionierende Gewaltenteilung, ein wehrhafter Föderalismus, Gerichte mit Biss und ein Kongress, der kein Durchwinkparlament ist. Trumps Koalition bleibt zudem fragil. Entsprechend ist die Gefahr einer raschen autoritären Wende aus heutiger Sicht gering. Oder, in Anlehnung zur klaren Wortgewandtheit von Bärbel Bas: Die Behauptung, die USA stünden bald vor einer Diktatur, ist – mit Blick auf die Fakten – schlichter Bullshit.
Schauen Sie in mein Fachbuch zur Thematik Autokratie:
Voss, Rödiger (2023): Autokratien politökonomisch erklärt. utb: München und Konstanz. oder online https://elibrary.utb.de/doi/pdf/10.36198/9783838560045-1-9
Referenzen (jeweils abgerufen am 02.10.2025)
Detrow 2015, online https://www.npr.org/2025/02/09/nx-s1-5288839/president-trumps-second-administration-and-project-2025
Langfitt 2025 - online https://www.npr.org/2025/04/22/nx-s1-5340753/trump-democracy-authoritarianism-competive-survey-political-scientist
Lipset 1959 – online https://pages.ucsd.edu/~mnaoi/page4/POLI227/files/page1_4.pdf
McGreal 2025 – online https://www.theguardian.com/us-news/2025/mar/01/trump-executive-order-dictatorship
Ortiz Blanes 2025 – online https://www.miamiherald.com/news/local/immigration/article308111995.html
Przeworski et al. 2000 – online https://www.cambridge.org/core/books/democracy-and-development/4A5F43C449ADA81BDB9293D5B10D27C1
Schlefer 2025 – online https://www.politico.com/news/magazine/2025/09/19/american-democracy-resilience-00548910
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